«Gemeinsam die Schweizer Museumslandschaft weiterentwickeln»

    Das Regionalmuseum Chüechlihus in Langnau i. E. ist eines der grössten und vielfältigsten Häuser mit heimatkundlicher Sammlung überhaupt. Derzeit wird die Sammlung mit einem Pionierprojekt #AltSuchtNeu, an dem die Bevölkerung beteiligt ist, entschlackt. Leiterin Carmen Simon gibt einen Überblick über das vielfältige Emmentaler Kulturgut, die Ausstellungen sowie die Entsammlung.

    (Bilder: zVg) Entsammlungsprojekt im Chüechlihus: Rund 2000 Gegenstände – Textilien und Accessoires – werden aus der Sammlung entlassen.

    Das Regionalmuseum Chüechlihus sammelt und bewahrt Kulturgut aus dem Emmental. Wieso empfiehlt es sich Ihr Museum zu besuchen?
    Carmen Simon: Das Regionalmuseum Chüechlihus befindet sich im ältesten weitgehend original erhaltenen Holzgebäude der Region mitten in Langnau im Emmental. Das imposante Bauwerk strahlt den typischen Charakter des Emmentals aus und zieht schon bei der Ankunft die Blicke auf sich. In der besonderen Atmosphäre des Chüechlihus bietet das Regionalmuseum für Klein und Gross lebendige Einblicke in das Kulturerbe des Emmentals: von der Alpkäserei bis zum Eishockeyclub «SCL Tigers». Der Besuch lohnt sich sowohl für kurze Einblicke in das Emmentaler Kulturgut, aber auch, um sich in die Region und seine Geschichte zu vertiefen. Das Museum umfasst eine Dauerausstellung mit 25 Ausstellungsräumen, eine Wechselausstellung zu aktuellen Themen, einen Museumsshop und ein Selbstbedienungskaffee. Ausserdem laden der kleine Hof mit Bauerngarten, die grosse Laube und das Museumsfoyer für einen Zwischenstopp und zum Verweilen ein. Sie bieten auch Platz für Apéros oder Konzerte. Ausserdem gibt es besondere Angebote für Kinder und Jugendliche wie auch Schnelldurchläufe für Gäste mit etwas weniger Zeit fürs Museum.

    Derzeit wird die Sammlung entschlackt. Was muss man sich darunter vorstellen?
    Das Museum besitzt eine kulturhistorische Sammlung von gut 25’000 regional bis national bedeutsamen Objekten, die das Leben im oberen Emmental von gestern bis heute dokumentieren. Über Jahre hinweg haben sich in der Sammlung des Regionalmuseums hunderte Objekte angesammelt, die mehrfach vorhanden, nicht dokumentiert oder unvollständig sind. Diese bieten dem Museum keinen Mehrwert (mehr). Deshalb kommen sie für eine Entsammlung – eine so genannte Deakzession – in Frage. Seit letztem Jahr verfolgt das Regionalmuseum Chüechlihus ein auf drei Jahre angelegtes Entsammlungsprojekt. Dieses Jahr liegt der Schwerpunkt auf textilen Objekten, also auf Anzügen, Kleidern und Trachtenteilen, aber auch Geschirr, Regenschirmen und einigem mehr. Vieles davon stammt aus einer Schenkung ans Museum, von der aber nur ein sehr kleiner Teil überhaupt in unsere Sammlung passt.

    In diesem Zusammenhang haben Sie im letzten Jahr das Pionierprojekt #AltSuchtNeu lanciert. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
    Im Herbst 2020 starteten wir im Regionalmuseum Chüechlihus das Grossprojekt der Depotzusammenlegung. Die Sammlung des Museums von gut 25’000 Gegenständen zum Emmentaler Kulturgut war bis dahin auf zehn Standorte im Dorf verteilt. Nicht alle diese Räumlichkeiten entsprachen den heutigen Museumsstandards. Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, alle Objekte der Sammlung in ein einziges Depot, das den heutigen Museumsstandards entspricht, zu zügeln. Das ist wichtig, um die Objekte sicher und wiederauffindbar zu lagern, zu besichtigen, zu erforschen und auszuleihen. Uns war klar, dass wir im Rahmen dieser grossen Aktion jedes Objekt der Sammlung in die Hände nehmen werden: es vor dem Umzug reinigen, von Schädlingen befreien, anschreiben, fotografieren und registrieren sowie im Anschluss transportieren, einräumen und verstandorten. Bei dieser Arbeit stellten wir fest, dass sich über Jahre hinweg hunderte Objekte in der Museumssammlung angesammelt haben, die mehrfach vorhanden oder unvollständig sind. Wir entschieden uns deshalb, die Museumssammlung zu entschlacken. Neuartig ist nicht, dass wir Teile unserer Sammlung deakzessionieren – so der Fachbegriff – denn das machen Museen schon länger. Das Besondere an unserer grossen Aktion ist, dass wir die Entsammlung ungewöhnlich transparent und zusammen mit der Bevölkerung durchführen. Wir machten die Umsetzung von Anfang an öffentlich sichtbar und lassen die Emmentaler/innen daran teilhaben.

    Die Objekte bekommen ein drittes Leben ausserhalb des Museums.

    Wie hat dieses Pionierprojekt letztes Jahr funktioniert. Wie war das Feedback der Bevölkerung?
    Die grossangelegte Aktion des Regionalmuseums Chüechlihus war ein Erfolg: Dank der Zusammenarbeit mit der Emmentaler Bevölkerung erhielten wir spannende und unerwartete Rückmeldungen zu unseren Objekten. Auf diese Weise erfuhren wir mehr über einzelne Gegenstände und neue, relevante Informationen. Diese Gegenstände behielten wir und entsammelten sie nicht. Zudem wurde plötzlich an Stammtischen über museale Prozesse diskutiert, was mich besonders freute, weil unsere Arbeit im Museum ausserhalb der Museumskreise kaum auf Interesse stösst. Den Objekten, die wir aus der Sammlung entlassen konnten, ermöglichten wir ausserdem ein drittes Leben. Insgesamt 96 Objektgruppen – Gegenstände, die bisher im Depot schlummerten – fanden ein neues Zuhause ausserhalb des Museums.

    Bei der zweiten Entsammlungsrunde geht es um Textilien. Um was für welche Textilien handelt es sich?
    Bei den gut 2’000 Gegenständen, die wir in diesem Jahr vorschlagen aus der Sammlung zu entlassen, handelt es sich nicht nur um Textilien, sondern u.a. auch um Accessoires. In diesem Jahr dabei sind deshalb neben Anzügen, Nachthemden, Trachtenteile, Blusen, Stoffresten, Bett- und Tischwäsche, Socken und Unterhosen auch Schuhe, Schirme, Knöpfe, (Haar)Schmuck, Hüte, Taschen, Geschirr und noch einiges mehr.

    Können Sie ein paar Beispiel nennen von Ideen für ein zweites Leben der Museumobjekte?
    Mir ist es wichtig hier zu ergänzen, dass für uns jede Idee eine Berechtigung für eine Bewerbung hat. Bei den Textilien denke ich direkt an Upcycling-Projektideen oder Projektideen im Designbereich. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, dass die historischen Kleider im Theater weiterverwendet werden oder in einer Kunstaktion zu neuem Leben erweckt werden. Das letzte Jahr hat aber gezeigt, dass es sich lohnt, sich von den eigenen Vorstellungen zu trennen. Ich freue mich über jede Bewerbung und lasse mich gerne überraschen!

    Welche Veranstaltungen und Events bietet das Regionalmuseum Chüechlihus sonst noch?
    Wir versuchen im Regionalmuseum Chüechlihus mit unseren Angeboten unterschiedliche Zielgruppen zu bedienen. Wir haben eine wunderbare Dauerausstellung, die so gross und spannend ist, dass sie mehrmals besucht werden kann. Natürlich bieten wir dafür auch geführte Rundgänge von 15 bis 90 Minuten an. Ausserdem gibt es ein spezielles Angebot für Schulen sowie Angebote für Familien: den Chüechlitiger oder den Chüechlihus-Sunndig im September – und neu auch die Brätzeliroute, die ebenfalls für Erwachsene spannend ist. Ausserdem sind wir sechsmal im Jahr am Langnauer Jahrmarkt mit einem Sonderprogramm präsent. Dann servieren wir auch die beliebten Rosenchüechli – ein Fettgebäck, nach dem das Regionalmuseum benannt ist.

    Welche Bedeutung hat das Regionalmuseum Chüechlihus in der Berner Kulturlandschaft?
    Ich bin überzeugt, dass wir als eines der grössten und vielseitigsten Regionalmuseen der Schweiz eine gute Grösse haben, um einiges bewirken zu können. Und mit «eine gute Grösse» meine ich, dass wir genügend gross sind, um Projekte mit Pioniercharakter lancieren zu können; wir sind aber auch genügend klein, um dabei dynamisch zu bleiben. Das Regionalmuseum Chüechlihus kann deshalb nicht nur im Kanton Bern, sondern für die Schweiz wegweisende Projekte durchführen und die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, zurück in die Museumslandschaft spielen. Damit können wir gemeinsam die Schweizer Museumslandschaft weiterentwickeln.

    Sind weitere Projekte geplant oder haben Sie Visionen für die Zukunft?
    Wir befinden uns aktuell mitten in einem Transformationsprozess. Wir haben für das Regionalmuseum Chüechlihus die Vision, dass wir im Museum mit den Emmentaler/innen gemeinsam ihr Kulturerbe bewahren und verhandeln und dass wir dabei auch Mitbestimmung ermöglichen. Wir möchten Themen in und aus der Region diskutieren und unterschiedliche Sichtweisen auf und aus der Region präsentieren. In der schulischen Kulturvermittlung wollen wir Faktenwissen vermitteln aber eben auch zu Selbstreflexion anregen. Da wo gewünscht, sind wir in Zukunft auch gerne ein Netzwerk für die Region sowie ein Ort, der auch ohne Konsumzwang besucht werden kann und der aber weiterhin Ausflugsziel für Gäste im Emmental bleibt.

    regionalmuseum-langnau.ch

    Interview: Corinne Remund


    Projekt Entsammeln

    Dreh- und Angelpunkt des Projektes ist die Website ENTSAMMELN.CH. Hierüber ist jedes zu entsammelnde Objekt sichtbar. Die Emmentaler/innen (Einwohner/innen und Heimatberechtigte) können während des Projekts online darüber abstimmen, was mit den Objekten aus dem Museum in Zukunft geschehen soll. Ein eigens für die Entsammlung gegründeter Objektrat begleitet alle Entscheide.

    In einer ersten Projektphase wird auf der Website darüber abgestimmt, welche Objekte das Museum verlassen sollen. In der zweiten Phase können sich dann alle – Museen, Institutionen, Vereine, Privatpersonen (auch ausserhalb des Emmentals) –, die sich für ein bestimmtes Objekt interessieren, mit einer Idee für eine Weiterverwendung bewerben. Worauf dann wiederum in der dritten Phase darüber abgestimmt wird, welche Idee für die Weiterverwendung eines Objekts die überzeugendste ist. Danach können die Gegenstände von den Bewerber/innen am Chüechlihus-Sunndig im September abgeholt werden.

    www.entsammeln.ch

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